Die Fussballweltmeisterschaft ist vorbei. In praktisch allen Nationen entfachte ein Patriotismus, wie man ihn sonst vielleicht nur in den USA kennt. Plötzlich war es wieder trendy, die eigene Nation anzufeuern, stolz darauf zu sein, Bürger dieser oder jener Nation zu sein. Im weltkriegstraumatisierten Deutschland waren die Intellektuellen derart ratlos, dass sie in einer Patriotismusdebatte nach Erklärungen dafür suchen mussten. Auch in der Schweiz wurde mitgefiebert. Ein Mehr in Rot-Weiss entstand in allen Städten nach jeder erfolgreichen Leistung des Schweizer Nationalteams.
Aber eben: Die Weltmeisterschaft ist vorbei. Es ist zu befürchten, dass dieses Wiederaufleben eines sympathischen Nationalbewusstseins von kurzer Dauer bleibt und sich auf ein kommerziell ausgestaltetes Sportereignis beschränkte. Warum aber haben gerade die Europäer ein derart gespanntes Verhältnis zum Begriff Nation?
Die Erklärung scheint einfach: Das nationalsozialistische Deutschland habe allen die Gräuel vor Augen geführt, die der Nationalstaat verursachen könne. Doch bleibt die Frage, ob die Nation wirklich das ausschlaggebende Element für den Nationalsozialismus gewesen ist. Immerhin wurde Deutschland auch wiederum von Nationalstaaten und nicht von supranationalen Organisationen besiegt, hauptsächlich übrigens von demjenigen Nationalstaat, den wir heute so gern verteufeln. Es gibt ebenso leuchtende wie abscheuliche Beispiele für den Nationalstaat. Was haben aber all die totalitären, nationalsozialistischen und faschistischen Regimes gemeinsam: Immer war es der Staat, der sich zu seiner Durchsetzung problemlos dem Element des Nationalen bedienen konnte, um es als Ersatzreligion, Volksbetörung oder Legitimation für Angriffskriege zu missbrauchen.
Das Problem ist, um es kurz zu fassen, nicht der Nationalstaat, sondern der Staat generell. Nationen wie England, die USA oder die Schweiz, Länder allesamt mit liberaler und staatsskeptischer Tradition wurden nie zum Opfer eines faschistischen oder nationalsozialistischen Regimes. Der freie Bürger, der sein Leben selbst in die Hand nimmt und dafür Verantwortung trägt, sich aber nicht in die Arme des Staates fallen lässt, ist der beste Garant für Freiheit, Demokratie und Menschenwürde. In Deutschland hingegen, dem Mutterland des Sozialstaates mit seiner autoritär organisierten Gesellschaft, war die liberale „Barriere“ viel tiefer, so dass sich der Nationalsozialismus leicht ausbreiten konnte. Der Bürger war hier primär Herdentier und der Staat eine Art komfortabler Massenfütterungsanstalt, die dem Bürger all seine Verantwortung abnahm. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis der Bürger auch seine Selbstbestimmung an den Staat übertrug und sich – freiwillig – zu seinem Sklaven machte. Das gleiche gilt für Japan mit seiner absolutistischen Tradition, das im 2. Weltkrieg als faschistisches Regime mit Deutschland und Italien auf einer Seite stand.
Genau betrachtet ist der Nationalstaat sogar ein Garant für Freiheit. Nur der Nationalstaat hat die Möglichkeit, eine freiheitliche Staatsordnung zu schaffen. Supranationale Organisationen wie die EU als Alternative tendieren per se zum Zentralismus, Bürgerferne und damit zur Unfreiheit, da von einer Zentrale aus ein riesiges Gebiet kontrolliert werden muss. Zudem sind die Magistraten eines derartigen zentralistischen Molochs den Bürgern kaum je Rechenschaft schuldig.
Die Schweiz ist nun ein Musterexempel eines erfolgreichen Nationalstaates. Trotz mangelnder Bodenschätze und inmitten von Grossmächten schaffte es dieses Land, zu einer der freiheitlichsten Nationen mit grossem Wohlstand in Europa zu werden. Grund dafür war hauptsächlich die Tradition der Freiheit. Der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller sagte einmal:„Der Nationalcharakter der Schweizer besteht nicht in den ältesten Ahnen, noch in der Lage des Landes noch sonst in irgend etwas Materiellem; sondern er besteht in ihrer Liebe zur Freiheit.“
Diese Freiheit äussert sich in der weitgehenden Kontrolle der Bürger über die Regierenden (direkte Demokratie), der ausgeprägten Machtverteilung im Staat (Föderalismus) und der aussenpolitischen Unabhängigkeit, basierend auf der Neutralität. Davon profitieren wir alle. Jeden Tag. Für dieses Leben in Freiheit und Wohlstand sollten wir dankbar sein. Wenn einzelne Parlamentarier den Saal verlassen beim Anklingen der Schweizer Nationalhymne, so ist dies nicht nur bedenklich, sondern schlicht dumm. Profitieren diese Parlamentarier etwa nicht auch von den Bürgerrechten, die unsere Bundesverfassung festhält? Im Sinne eines selbstbewussten Patriotismus dürfen wir stolz auf unsere Errungenschaften sein, ohne dabei aber den Blick für die Errungenschaften anderer Nationen zu verlieren. Oder wie Gottfried Keller einst sagte: „Achte jedes Mannes Vaterland, aber das deinige liebe.“