Wandlungen der Konsumgesellschaft
Risiken und deren Verminderung prägen die politische Agenda. Besonders problematisch ist die blind machende Angst vor dem Risiko im Strafrecht.
Das Initiativkomitee «für den Schutz vor Waffengewalt» – zusammengesetzt aus SP, Grünen, Armee-Abschaffern und Frauenverbänden – schlägt Alarm: «Unerträgliches Sicherheitsrisiko für Frauen, Kinder und Männer: 2,3 Millionen Feuerwaffen in Schweizer Haushalten».
Restrisiken bleiben immer
Der Fall ist symptomatisch für die moderne Politik, was die Diskussion um Risiken angeht. Risiken bzw. deren Verminderung prägen die politische Agenda. Der deutsche Soziologe Ulrich Beck hat den Begriff der Risikogesellschaft geprägt. Der Fortschrittsglaube der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts hat sich angesichts von zwei Weltkriegen und einem nuklearen Fast-Supergau in Tschernobyl verflüchtigt. Weder Wirtschaftswachstum noch technischer Fortschritt vermögen alle menschlichen Probleme zu lösen. Restrisiken bleiben immer. Deren bestmögliche Eindämmung ist nach Beck kennzeichnendes Merkmal spätmoderner Gesellschaften.[1]
Bindungslosigkeit
Dazu kommt ein anderer Grund: Die heutige, spätmoderne Konsumgesellschaft zeichnet sich durch eine in der Weltgeschichte nie gekannte Bindungslosigkeit des Menschen aus. Traditionelle, Wertordnungen haben an Bedeutung verloren: Religion ist primär noch ein Garant für ein paar Ferientage im Jahr. Patriotismus ist hauptsächlich noch an Events wie Fussball-Weltmeisterschaften zu spüren. Familie ist keine Notwendigkeit mehr. Sie ist eine Möglichkeit der Lebensgestaltung; eingereiht neben anderen in der Luxusabteilung im Supermarkt der Spassgesellschaft. Diese Emanzipation macht den Menschen unabhängig, aber auch einsam. Entsprechend akut ist das Bedürfnis nach einem starken Staat, der die atomisierten Individuen vor allerlei Gefährdungen schützt.
Beispiel Sozialversicherungen
Prominentes Beispiel sind die Sozialversicherungen: Diese decken soziale Risiken wie Alter, Arbeitslosigkeit, Invalidität, Krankheit oder Unfall ab. Die Rentenzahlung erfolgt unabhängig vom Einzelfall. Selbst wenn sich konkret bei einer Entlassung – z.B. aufgrund von familiärer Hilfe – keine soziale Problematik ergibt: Arbeitslosigkeit ist als soziales Risiko definiert, also wird bezahlt.
Das Bedürfnis nach Risiko-Minimierung ist überaus vereinnahmend; man verliert leicht den Blick fürs Ganze. Um auf das Beispiel der Waffenverbots-Initiative zurückzukommen. Ja, es gibt viele Waffen in Schweizer Haushalten; und ja, es gibt ein Risiko, von Waffen verletzt oder getötet zu werden. Also lancieren linke Kreise eine Initiative und wollen das Sturmgewehr ins Zeughaus verbannen. Das Kampagnen-Sujet zeigt blutbefleckte Finger eines Opfers von Schusswaffengewalt. Der Betrachter fühlt sich wie in einem Horrorfilm. Das Bild vermittelt und erzeugt Angst. Angst vor dem Risiko, selbst Opfer von Waffengewalt zu werden.
Im Bestreben nach Risiko-Minimierung geraten aber die übrigen, wichtigen Facetten des Problems aus dem Blickfeld. Nämlich der fehlende Zusammenhang zwischen dem Einziehen des Sturmgewehrs und mehr Sicherheit vor Waffengewalt. Nur etwa drei Prozent der Tötungsdelikte werden hierzulande mit Ordonnanzwaffen begangen. Die Schweiz hat europaweit die wohl grösste Schusswaffendichte in privaten Haushalten, gleichzeitig aber die tiefste Tötungsrate (zwölf Tötungsdelikte pro Million Einwohner). In Holland, wo nur zwei Prozent der Haushalte über Schusswaffen verfügen, sind es fünfzehn; im waffenrechtlich restriktiven Finnland sogar 24. In Finnland ist im Übrigen auch die Suizidrate mit Schusswaffen am höchsten.
Schutzlos ausgeliefert
Erfahrungen in Grossbritannien, Australien, Irland und Jamaika mit Waffenverboten haben sogar gezeigt, dass nach Einführung der strengeren Vorschriften die Kriminalität zugenommen hat. Die britische Regierung z.B. verbot nach dem Schulmassaker in Dunblane im Januar 1997 weitgehend den Besitz von privaten Handfeuerwaffen. In der Zeit von 1996-2003 verdoppelten sich in England und Wales die Verbrechen mit Schusswaffen. Bewaffnete Raubüberfälle stiegen um 101 Prozent, Vergewaltigungen um 105 Prozent und Tötungen um 24 Prozent. Eigentlich einleuchtend: Kriminelle halten sich definitionsgemäss nicht ans Gesetz, also auch nicht an ein schärferes Waffenrecht. Sie bleiben bewaffnet. Anders rechtschaffene Bürger, die sich bereitwillig entwaffnen lassen und anschliessend bewaffneten Kriminellen schutzlos ausgeliefert sind.
Trotzdem: Sobald es ein Opfer von Schusswaffenmissbrauch gibt, kommen Forderungen nach schärferem Waffenrecht ins Spiel. Fakten hin oder her. Letztlich ist es menschlich: Nach einem Amoklauf z.B. sind Trauer, Unverständnis, aber auch das Bedürfnis zu handeln verständlicherweise gross. Oft hat sich der Täter in solchen Fällen aber bereits selbst gerichtet. Der Schuldige ist nicht mehr da. Das Bedürfnis zu handeln, damit sich solches nicht wiederholt, bleibt. Wenn schon kein Täter mehr da ist, verbietet man wenigstens sein Werkzeug.
Fälle wie der Schusswaffenmissbrauch in Zürich-Höngg (hier hat sich der Täter nicht selbst gerichtet) zeigen aber, wo die wirklichen Ursachen von Schusswaffenmissbrauch liegen – beim Schützen: Luis W., der nach absolvierter RS mit dem Sturmgewehr eine junge Frau erschossen hat, war eingebürgert, vorbestraft und bekannt als Anti-WEF-Demonstrant. Nach eigenen Angaben mit Kontakt zur grünen Szene.
Verbot löst keine Probleme
Die Liste der Beispiele lässt sich endlos verlängern. Nach dem tragischen Tod eines Jungen durch drei Pitbull-Terrier in Oberglatt ZH forderten die Boulevard-Zeitung «Blick» und zahlreiche Politiker lauthals ein Kampfhundeverbot. Selbstverständlich ist auch hier das Problem nicht der Hund, sondern der Hundehalter. Ein Verbot löst keine Probleme, da die fraglichen Halter dann die Hunderasse wechseln und weiter Hunde abrichten. Aber in der Angst vor dem Risiko ist jedes Verbot recht.
In der Diskussion um medial aufgepeitschte tragische Einzelschicksale droht der Blick für die längerfristigen, aber um so schwerwiegenderen Gefahren verloren zu gehen. Es bleibt keine Zeit mehr, sich um Themen wie die demographische Zeitbombe, die zunehmende Tendenz zu Parallelgesellschaften in Europa, die finanzielle Schieflage der Sozialwerke (Milliardenschulden der IV, Unterdeckung der Pensionskassen etc.) oder die horrende Staatsverschuldung (über 120 Milliarden Franken allein auf Bundesebene) zu kümmern.
«Abstrakte Gefährdung»
Besonders problematisch ist die blind machende Angst vor dem Risiko im Strafrecht. Diese zeigt sich in den rechtsstaatlich bedenklichen Tatbeständen sogenannter abstrakter Gefährdungsdelikte: Die Bestrafung abstrakter Gefährdungen umfasst Handlungen, die für sich selber ungefährlich sind. Aber unter Umständen hätte etwas passieren können. Im Strassenverkehr etwa: Gebüsst wird, wer zu schnell fährt. Mag er jemanden gefährdet haben oder nicht. Mit der bekannten Konsequenz, dass ein Autofahrer an einer verkehrstechnisch ungefährlichen Stelle geblitzt wird. Nämlich dort, wo es erfahrungsgemäss die meisten, wenn auch unproblematischen Übertretungen gibt: Für den Fiskus eine angenehme Art, sein Budget aufzupolieren.
Der Umfang von Handlungen, die unter Umständen gefährlich sein und damit in den Fokus des Risikostrafrechts kommen könnten, ist fast unbegrenzt. Letztlich geht es um eine Vorverlagerung der Strafbarkeit. Das Strafrecht verlässt den liberalen Boden einer Schadensabwehr und wird zum Erziehungsmittel. Will sich das Risikostrafrecht dabei nicht bloss auf einige Beispiele konzentrieren, ist es auf schwammige generelle Formulierungen angewiesen: Angesichts der Konsequenzen eines Strafurteils ein eigentlich unannehmbarer Zustand.
Beispiel Antirassismus-Strafnorm
Das zeigt sich etwa bei der Antirassismus-Strafnorm. Bestraft werden (angeblich) fremdenfeindliche Äusserungen, weil sie den öffentlichen Frieden gefährden könnten. Unabhängig davon, ob sich überhaupt jemand gestört fühlt. Unabhängig davon, ob irgend jemand die angeblich gefährlichen Äusserungen ernst nimmt. Aufgrund der unklaren Tragweite der Norm sind Kollisionen mit der Meinungsfreiheit garantiert. Der Solothurner Kantonsrat Heinz Müller wurde etwa für folgende Aussage in einen Rechtsstreit verwickelt: «Die Ausländer kennen die Gepflogenheiten hier nicht und werden sie auch nicht lernen. Zum Beispiel die Kosovo-Albaner: Sie legen eine Gewaltbereitschaft an den Tag, die wir hier nicht kennen.» Otto-Normalverbraucher ohne juristischen Fachwortschatz wäre also im Grunde genommen auf ständigen Beistand eines Anwaltes angewiesen, um sich immer ganz korrekt antirassistisch zu äussern. Ausser natürlich Otto-Normalverbraucher beschliesst, sich gar nicht mehr zu äussern und die Ausländerpolitik in Zukunft von der politischen Zuschauertribüne aus zu verfolgen.
Wie sagte noch Benjamin Franklin: «Jene, die grundlegende Freiheit aufgeben würden, um eine geringe vorübergehende Sicherheit zu erwerben, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit.»
Das galt für die Welt im 18. Jahrhundert nicht weniger als für die spätmoderne Konsumgesellschaft.
[1]So treffend Becks Analyse der heutigen Zeit ist, so fragwürdig erscheinen die Schlussfolgerungen, die der Soziologe daraus zieht. Der Nationalstaat z.B. ist nicht etwa ein Auslaufmodell. Er ist nach wie vor die wichtigste politische Handlungseinheit und aufgrund seines Gewaltmonopols der einzig echte Garant für Menschenrechte.