Es gibt nicht nur linke Kulturschaffende: Andreas Thiel, Satiriker und Publizist
In einem von Patrick Freudiger, Langenthal BE geführten Exklusiv-Interview mit der «Schweizerzeit» äussert sich der Solothurner Satiriker und Publizist Andreas Thiel zum Ideal der Selbstverantwortung in einer liberalen Gesellschaft. Seine Erfahrungen als liberal-konservativer Künstler in einer überwiegend linken Kulturszene bilden den zweiten Schwerpunkt des Interviews.
Frage: Als Satiriker und Publizist müssen Sie ein guter Beobachter der Gesellschaft sein: Was sind heute die grossen Probleme der Schweiz?
Andreas Thiel: Die politische Abstinenz und der Wertezerfall. Beides sind Folgen eines erfolgreichen politischen Systems. Dieses hat bewirkt, dass die Menschen in einer Wohlstandsfülle leben. Leider verlieren die Menschen ihre Ideale, wenn es ihnen zu gut geht, sehr schnell, denn sie haben nichts mehr, wonach sie streben können. Sie verlieren den Blick für die grundlegenden Sinnfragen. In der heutigen Vollversorgung braucht der Mensch keine Selbstverantwortung mehr, er kann sich einfach treiben lassen.
Wertezerfall
Sie sprechen von Wertezerfall. Was meinen Sie genau damit?
Andreas Thiel: Der Mensch strebt naturgemäss nach Verbesserung seiner Situation. Die Grundlage dazu ist die Sicherung von Freiheit, Recht und Eigentum. Um diese zu sichern, sind Werte wie Moral, Verantwortung und Menschlichkeit unabdingbar. Ist der Wohlstand einmal ausgebrochen, wird der Mensch bequem und delegiert seine Selbstverantwortung, die Moral und die Menschlichkeit an die Verwaltung; es entsteht ein kalter Sozialstaat.
Der Mensch im Sozialstaat, der seine Grundwerte abgegeben hat, strebt zwar immer noch nach Verbesserung, aber ohne Werte-Fundament verspürt er nur noch einen leeren inneren Drang nach Sicherheit. Man strebt danach, dass man nichts verliert, ohne etwas zu tun. Folge davon sind all die Demonstrationen gegen die Globalisierung.
Wie schlimm steht es Ihrer Ansicht nach um unsere Gesellschaft?
Andreas Thiel: Jede Kultur hat ihren Lebenszyklus. Das war schon zur Zeit der alten Griechen so: Die Gesellschaft Athens war dank des Wohlstands derart korrupt und dekadent geworden, dass Sparta sie schliesslich besiegen konnte. Heute befürchte ich, dass unsere atheistische Gesellschaft den Zenith bereits überschritten hat.
Sie kritisieren nicht nur den Wertezerfall, sondern sind auch ein Verfechter der liberalen Gesellschaft, welche diese Dekadenzerscheinungen ja gerade erlaubt. Ein Widerspruch?
Andreas Thiel: Nein. Die liberale Gesellschaft kann sich ja nur dadurch bilden, dass sie auch eine wertkonservative Gesellschaft ist. Das Ideal der Selbstverantwortung ist im Liberalismus enthalten, dasjenige der Moral und Menschlichkeit im Wertkonservativismus. Liberalismus ist folglich eine Gesellschaftsordnung, und zwar die einzig erfolgreiche zur Bildung von Wohlstand. Wertkonservativismus dagegen ist eine Geisteshaltung. Liberalismus heisst, man soll die Welt so nehmen, wie sie ist, und etwas daraus machen. Das gibt einem auch die Möglichkeit, gegen den Wertezerfall zu kämpfen.
Exorbitante Managerlöhne, sinkende Geburtenraten, Überalterung: Das sind doch auch die Folgen einer liberalen Gesellschaft?
Andreas Thiel: Hohe Managerlöhne in privaten Unternehmen sind mir eigentlich egal. Wer nicht zufrieden ist, soll seine Aktien verkaufen oder die Arbeitsstelle wechseln. Probleme habe ich mit hohen Löhnen dann, wenn diese in einem Staatsbetrieb und ergo mit meinen Steuergeldern bezahlt werden.
Die liberale Gesellschaft zwingt auch niemanden dazu, Kinder zu haben. Immerhin ist hier eine gewisse Selbstregulierung der liberalen Gesellschaft ersichtlich. Junge Menschen haben zusehends genug von den negativen Vorbildern der arbeitenden, alleinerziehenden Mütter und wollen wieder eher Kinder in der klassischen Familienform grossziehen.
Die Überalterung wird nur deshalb so negativ gesehen, weil man heute nur ans Geld denkt. Dabei hat sie durchaus auch positive Effekte: Ältere Menschen haben viel Erfahrung, bereichern damit die Gesellschaft und tragen zur Stabilität bei.
«Recht auf Glück»
Das tut die liberale Gesellschaft mit denjenigen Leuten, die keine Arbeit gefunden haben, die ihr Glück nicht verwirklichen konnten?
Andreas Thiel: Niemand hat einen Anspruch auf Glück, sondern nur ein Recht, nach Glück zu streben. Ausser Gott hat niemand die Macht, Glück zu verteilen. Wer unglücklich ist, dem kann aber geholfen werden; die effizienteste Hilfe kommt meistens aus dem näheren Umfeld, aus der Familie, von den Arbeitskollegen, den Freunden oder aus der Nachbarschaft. Geld allein hilft selten. Ein Mensch in Not braucht Menschen, die ihm helfen, nicht Ämter, Kommissionen und Formulare.
Heute wird schon als bemitleidenswert betrachtet, wer nicht gleich auf Anhieb eine Lehrstelle findet. Ich habe anderthalb Jahre auf dem Bau und im Gastgewerbe gearbeitet und bin mit dem Geld auch reisen gegangen, bis ich meine Wunsch-Lehrstelle antreten konnte. Der Staat kann diese Wege nicht vorgeben. Voraussetzung ist aber, dass man sein Pech auch als Herausforderung wahrnimmt, aus der Situation das Beste macht und sich nicht mit Sozialhilfe per Checkbuch über Wasser hält und somit andere für sich arbeiten lässt.
Die heute vorherrschende Soziallehre sieht den Menschen aber als Opfer seiner Umwelt. Leistungsdruck, Globalisierung etc. seien verantwortlich dafür, dass sich Menschen nicht mehr zurecht finden. Stimmen Sie dem zu?
Andreas Thiel: Das ist eine atheistische Betrachtungsweise, die dem Menschen keinen freien Charakter zutraut und seine Hoffnung negiert, aus einer bitteren Situation doch noch etwas Gutes machen zu können. Man gestattet dem Menschen, sich als Opfer ohne Chancen zu betrachten. Der Mensch wird so nicht zum Opfer seiner Umwelt, sondern zum Opfer derer, die behaupten, er sei ein Opfer.
Sie sprachen mehrmals von einer atheistischen Gesellschaft. Sind Sie persönlich religiös bzw. kann man als Satiriker überhaupt religiös sein?
Andreas Thiel: Ja. Auch als Satiriker muss ich mir moralische Grenzen setzen. Der Atheismus bietet einen geistigen Background, der den Blick zurück durch die Geburt limitiert und den Blick nach vorne durch den zu erwartenden Tod nach ca. 80 Jahren. Einem Atheisten fehlen sämtliche Ressourcen, um höhere Werte zu schöpfen. Er hält seinen Intellekt für die höchste existierende Intelligenz. Gott so zu negieren, ist, gelinde gesagt, eine leicht überhebliche Haltung.
Uns sind drei geistige Grundpfeiler gegeben: Die Religion, die Wissenschaft und die Kunst. Religion und Wissenschaft kontrollieren sich gegenseitig, die Logik kontrolliert die Moral und umgekehrt. Die Kunst ist ein Medium, alles zu vermitteln. Es gehört zum Wesen jedes Machtsystems, diese drei Teile völlig voneinander loszulösen. Und ich spreche nicht von der – sehr gesunden – Trennung von Religion und Staat sondern davon, dass Argumente aus dem einen Bereich in dem anderen nicht mehr wahrgenommen werden. Das führt zur Pervertierung sowohl der Wissenschaft wie auch der Religion und der Kunst. Der Sozialismus beispielsweise ersetzt die Religion durch eine Ideologie, stellt die Kunst dann aber in deren Dienst. Auch heute leiden wir an all den pseudowissenschaftlichen Tendenzen der Psychologie, der Ethnologie und der Soziologie, welche das Leben nicht religiös sondern rein wissenschaftlich erklären wollen.
Über die Kunst
Bleiben wir bei der Kunst. Worin liegt genau der Wert der Kunst für Sie?
Andreas Thiel: Die Kunst vermittelt dem Menschen Bilder und Gefühle. Diese wirken viel besser als irgend welche Vorträge oder wissenschaftliche Abhandlungen und sind auch weniger verfälschbar. Letztlich vermittelt die Kunst den Glauben ans Positive. Kunst muss gut und schön sein. Schön bezieht sich auf die Mittel, also die Graphik und das Design, das Handwerk. Gut ist Kunst, wenn sie Inhalt hat. Unsere atheistische Zeit hat zum Wegfall des Guten geführt und die Kunst vom Können befreit. Das heisst nicht, dass gute und schöne Kunst nicht auch auf die unglaubliche Tragik dieser Welt, auf Unrecht und Widerwärtigkeiten aufmerksam machen könnte. Das Bourbaki-Panorama beispielsweise zeigt die Leiden des Krieges, vermittelt aber ein Gefühl von Mitleid und der Solidarität. Picassos «Guernica» hingegen erzeugt aufgrund der gewählten Darstellung nur Abscheu und Hass gegenüber den Tätern. Damit provoziert der Künstler aber weder das Gefühl der Hoffnung für die Opfer noch des Mitleides des Betrachters für diese Opfer.
Mit Ihrer liberal-konservativen Haltung sind Sie eine Ausnahme-Erscheinung in der Kunstszene. Warum sind heute die meisten Künstler politisch links stehend?
Andreas Thiel: Das ist ein Trend, der auch wieder vorbei geht. Auch die meisten Intellektuellen beginnen erst zu denken, wenn es ihnen nicht mehr gut geht. Der Künstler oder Satiriker lehnt sich auf gegen die herrschenden Umstände. Diese waren in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts liberal und konservativ. Ich finde mich heute aber in einem überregulierten Sozialstaat wieder. Ich lehne mich gegen den etatistischen Strukturkonservativismus auf.
Wie gelingt es Ihnen, ohne staatliche Unterstützung und wider den Mainstream in der Intellektuellenszene erfolgreich nicht massenkonforme Kunst zu schaffen?
Andreas Thiel: Zum Staat zu gehen, das widerspricht meinen Werten. Ich arbeite viel. Ich habe viele Auftritte vor kleinem Publikum. Ich gehe unternehmerische, aber nicht finanzielle Risiken ein. Ich denke marktwirtschaftlich und betrachte Kunst nicht einfach als Selbstzweck.
Mohammed-Karikaturen
Wie haben Sie als Satiriker die Aufregung über die Mohammed-Karikaturen empfunden?
Andreas Thiel: Die liberale Gesellschaft muss jede Art von Kritik zulassen, vor allem auch die satirische Kritik. Die Unterdrückung von Kritik widerspricht unseren fundamentalen Werten.
Die Mohammed-Karikaturen haben zu einer grundsätzlichen Diskussion über das Verhältnis vom Christentum zum Islam geführt. Wie unterscheiden sich die Religionen?
Andreas Thiel: Die Bibel erzählt vor allem Geschichten und vermittelt Werte. Beispielhaft sind die zehn Gebote als Grundregeln für das Zusammenleben in einer Gesellschaft. Der Koran dagegen ist ein sehr weltliches Werk. Er beschreibt vor allem, was mit Regelbrechern zu tun ist. Er ist primär ein Anwendungshandbuch für eine Gesellschaftsordnung, welche die Legitimation in der Religion sieht.
Wie sehen Sie das Verhältnis von Religion zum Staat?
Andreas Thiel: Die Religion ist vom Staat getrennt und diesem untergeordnet. Was passiert, wenn dieser Laizismus nicht garantiert wird, erleben wir ja in den islamischen Ländern. Das Problem liegt immer im Menschen, der den Koran oder sonst ein Werk zum Machtmissbrauch verwendet. Und eine Ordnung, welche Religion und Staat vermischt, erlaubt diesen Missbrauch. Wenn der Staat ein Rechtssystem garantiert, dürfen diese Gesetze auch im Namen der Religion nicht mehr gebrochen werden. Religion ist Privatsache. Die Religion kann auch nicht staatlich verordnet werden. Unser liberaler Rechtsstaat lässt zu, dass ich als Christ oder Muslim lebe, so lange ich mich an die Gesetze halte. Es herrscht in der Schweiz z.B. das Prinzip der Gleichberechtigung von Mann und Frau, egal was welche Religion dazu sagt.
Rechte und Pflichten
Wir erleben heute, wie gewisse Asyl- oder Migrationsgruppen immer offensiver ihre Rechte betonen, jedoch teilweise eine sinkende Kooperations- bzw. Integrationsbereitschaft zeigen. Was ist hier zu tun?
Andreas Thiel: Rechte gehen Hand in Hand mit Pflichten. Wenn man selbst nicht die auferlegten Pflichten übernimmt, muss es ein anderer tun. Dass etwa Asylbewerber mit der anstehenden Revision zu mehr Kooperation mit den Behörden gezwungen werden, ist meiner Ansicht nach richtig. Ich habe auch nichts übrig für Scheinehen. Man darf sich vor Missbrauch schützen.
Zu guter letzt: Kunstschaffende haben das Privileg, unkonventionell und frei von Interessenpolitik denken zu können. Was sind Ihre Vorschläge für die Zukunft der Schweiz?
Andreas Thiel: Die Schweiz muss ihren historisch gewachsenen Föderalismus bewahren. Je kleiner die demokratisch kontrollierte Einheit ist, desto mehr Interesse hat der einzelne Mensch, am Ganzen mitzuwirken. Erstens hat er dann einen direkteren Bezug zum Gemeinwesen. Zweitens wird seine relative Stärke aufgrund der kleinen Einheit grösser.
Ich danke Ihnen für das Gespräch. (Interview: Patrick Freudiger)