Interview mit Robert Nef, Leiter des Liberalen Instituts, Herausgeber der Schweizer Monatshefte.
Was sind die Grundlagen des liberalen Staates und der Marktwirtschaft als Folge davon?
Ein liberaler Staat muss den Schutz der Freiheit des Einzelnen und der autonomen Gruppen gewährleisten. Er darf nur eingreifen, wenn das Leben, die Freiheit und die Integrität von Menschen gefährdet sind.
Marktwirtschaft beruht auf dem fremdherrschaftsfreien Tausch. Dies setzt voraus, dass sich Güter, Dienstleistungen und auch Ideen frei bewegen und frei angeboten werden können.
Liberal wird heute gleichgesetzt mit Managern auf der einen Seite, die Milliardengewinne kassieren, und Arbeitnehmern auf der anderen Seite, denen gerade einmal die Teuerung ausgeglichen wird. Ist das Liberalismus?
Ungleichheit, die von vielen als ungerecht empfunden wird, gehört zum System der Marktwirtschaft. Das Unternehmen soll entscheiden können, wie sein Gewinn verteilt wird. Es hat auch die Folgen eines Verlustes selbst zu tragen. Der Arbeitnehmer muss sich ja mit seinem Lohn auch nicht am Verlust beteiligen. Die These, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, stimmt nicht. Vielmehr steigt der Wohlstand schubweise an, bei den Reichen zuerst und danach bei den ärmeren Bevölkerungsschichten. Die Gewinne werden für neue Investitionen gebraucht, die Arbeit schaffen und damit den relativ Armen ermöglichen, reicher zu werden. Wer heute als arm gilt, hätte vor 50 Jahren noch zum Mittelstand gehört.
Aber es war dennoch die kapitalistische Wirtschaft, die das verarmte Industrieproletariat (z.B. in England) überhaupt entstehen liess. Erst mit dem Sozialstaat konnten diese Entwicklungen kontrolliert werden.
Diese marxistische These ist von der neueren Forschung widerlegt worden. Vor dem Zeitalter des Kapitalismus hat man sich für wirtschaftliches Elend kaum interessiert. Man hat es als gottgegeben angenommen und auch keine Statistiken darüber geführt. Der Kapitalismus ist ein umwälzendes welthistorisches Phänomen, bei dem erstmals in der Geschichte alle Menschen in den Wirtschaftsprozess einbezogen werden. Die wirtschaftliche Integration der Ärmsten in den Arbeitsprozess und damit die schrittweise Überwindung des Elends fand schon vor dem Aufkommen des Sozialismus statt und schon vor seinem Projekt der Überwindung des kollektiven Elends durch staatliche Einrichtungen. Ob wohlfahrtsstaatliche Institutionen tatsächlich die Armut verringert und die Wohlfahrt gefördert haben, ist nachträglich schwer zu beurteilen. Die USA sind jedenfalls ohne Sozialismus schneller zu einem generell höheren Wohlfahrtsniveau gelangt .als gemischtwirtschaftliche und sozialistische Staaten.
Funktioniert der freie Markt überhaupt? Was ist mit all den faktischen Monopolen oder Oligopolen: Microsoft kontrolliert den Softwaremarkt alleine, die Telekommunikationsbranche ist – zumindest in der Schweiz – zwischen drei Anbietern aufgeteilt. Als Aussenseiter hat man so gut wie keine Chance, sich im Markt zu etablieren.
Kartellgesetze und Fusionsverbote, also staatlicher Zwang, sind aus liberaler Sicht durchaus vertretbar. Allerdings darf der Einfluss solcher Gesetze nicht überschätzt werden. Nicht selten werden Monopole und Kartelle damit eher gefördert als verhindert. Ich bevorzuge einen Mittelweg. Missbrauch muss bekämpft werden, aber mit einem Wettbewerb der Wettbewerbspolitiken in kleineren Einheiten. Das beste gegen die Macht der Kartelle sind globale offene Märkte. Das sogenannte Bierkartell wurde in der Schweiz durch die Marktöffnung und nicht durch Gesetze gesprengt.
Der Telekommunikationsbereich war in der Schweiz allzu lange Zeit in staatlicher Hand, was die oligarchischen Strukturen erklärt. Ob Microsoft in 20 Jahren noch eine Monopolstellung hat, ist fraglich. Mit der Zeit verfettet und verdummt jeder Monopolist. In einer sich rasch wandelnden Welt besteht für kleine Marktteilnehmer dank technischer Dynamik die Möglichkeit, sich auch in einem Markt zu etablieren, in dem die Grossen versuchen, sich abzusprechen.
Eine Koalition der wirtschaftlich Mächtigen mit den politisch Einflussreichen, wie wir sie heute in korporatistischen Strukturen oft erleben, ist für neue, kleine Marktteilnehmer das Hauptproblem. Für Neueinsteiger wäre eine möglichst vollständige Trennung von Staat und Wirtschaft das Beste.
Stichwort “service public“: Die SBB etwa hat ein Monopol, weil sonst die Randregionen nicht mehr ans Schienennetz angeschlossen wären, was eine vermehrte Landflucht zur Folge hätte.
Hier befürworte ich einen geordneten Rückzug des Staates. Das SBB-Monopol ist an die Netzwerke gebunden, weshalb eine Abgeltung der Netzwerkbenutzung durch Private in Betracht zu ziehen ist. Die Benutzerfinanzierung muss im Zentrum stehen. Dies wird allerdings zur Folge haben, dass die Bahnen in Randregionen, wo es weniger Benutzer gibt, teurer würden. Die Randregionen haben aber durchaus auch Trümpfe in den Händen, z.B. eine geschickte Tiefsteuerpolitik, die gute Steuerzahler anlockt. Die Attraktivität peripherer Gebiete dank tiefer Steuern beobachten wir heute in vielen früher armen Kantonen. Man war in diesem Bereich in den letzten Jahren zu wenig kreativ und hat gejammert und Ausgleichszahlungen verlangt, anstatt auch im Bereich der öffentlichen Finanzen unternehmerisch zu denken und zu handeln. Es ist sehr wohl möglich, dass der Wettbewerb einen besseren Ausgleich bewirkt als die Umverteilung durch Subventionen.
Heute ist es gang und gäbe, Minderheiten zu fördern, da diese sich in einer Gesellschaft, die dem formalen Gleichheitsbegriff verpflichtet ist, nicht behaupten können. Als Beispiele genannt werden die Diskriminierungen von Frauen oder Ausländern. Ist die liberale Gesellschaft tatsächlich unfähig, Minderheiten zu integrieren? Benötigen Letztere staatliche Hilfe?
Eine Gesellschaft, welche die Vielfalt respektiert, sieht im Anderen das Positive. Es bilden sich heute neue, interessante Kleinmärkte, in denen etwa Direktimporte aus Asien sogar billiger angeboten werden als bei den Grossverteilern. Wirtschaftlicher Fortschritt und ein deregulierter Markt, wo das Primat der Leistung zählt, sind der beste Minderheitenschutz. Die sozialen Kompetenzen der Frauen sind in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft zunehmend gefragt, und ich schliesse nicht aus, dass dies in absehbarer Zeit in gewissen Berufen auf dem Arbeitsmarkt für Männer zum Problem wird. Gut gemeinte staatliche Schutz- und Fördermassnahmen für Frauen führen nicht selten zu einer neuen Art von Frauendiskriminierung beispielsweise im Zusammenhang mit dem staatlich verordneten Mutterschaftsurlaub.
Was sagen Sie jemandem, der alles versucht und trotzdem keine Arbeit gefunden hat; braucht es hier nicht staatliche Hilfe?
Die sozialstaatlichen Einrichtungen wurden für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. konzipiert. Die sozialistische Ideologie jedoch will einen Wohlfahrtsstaat mit dem realen Ziel der Gleichbehandlung aller erzwingen. Die Demokratie im Sinn des Mehrheitsprinzips fördert diese Tendenz indem eine Mehrheit von relativ Armen einer Minderheit von relativ Reichen hohe Steuerlasten aufzwingen kann. Dadurch werden finanzielle Mittel in die Umverteilung umgeleitet, die man eigentlich bei den Investitionen brauchen würde, die Arbeit schaffen.
Aus liberaler Sicht ist eine öffentliche Unterstützung der wirklich Notleidenden zu befürworten, wenn die privaten Netzwerke nicht ausreichen. Wer staatliche Hilfe in Anspruch nehmen will, muss allerdings seine Bedürftigkeit nachweisen. Das hat überhaupt nichts Entwürdigendes an sich.
Die Menschen müssen sich Freiheit gegenseitig zutrauen und zumuten. Einerseits entsteht so ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis, andererseits werden dem Einzelnen auch die möglicherweise negativen Folgen seiner freien Entscheidung zugerechnet. Eine Politik, die sich heute auf das Festlegen generell-abstrakter Normen konzentriert, hat ausgedient. Nicht Gesetze, sondern privatautonome, vertragliche Lösungen sind gefragt. Wer ein Problem hat, muss jemanden finden können, der ihm hilft, allerdings nicht gratis. Nur wer diese Hilfe wirklich nicht bezahlen kann, braucht gezielte Subjekthilfe vom Staat. Tony Blair hat Recht, wenn er eine schrittweise Privatisierung der Sozialpolitik anstrebt.
Der Kapitalismus hat zur Bildung einer Massengesellschaft geführt, in der sich der Mensch als uniformiertes Zahnrad im Getriebe eines Grossbetriebes wieder findet. Noch heute scheint es schwierig für Anbieter, die abseits des Massengeschmacks produzieren, sich zu behaupten. Zerstört der Liberalismus die Vielfalt?
In der Frühphase des Kapitalismus gab es solche Effekte. Wenn alle Leute denselben Geschmack hatten, war die Massenproduktion lukrativ. Das Fabrikzeitalter hatte einen starken Einfluss auf die Gleichschaltung der Menschen. Der Sozialstaat verstärkte diese Gleichschaltung mit seinen unpersönlichen Mechanismen der institutionalisierten Hilfe.
In einer hoch arbeitsteiligen Dienstleistungsgesellschaft steigt die Nachfrage nach Produkten, die auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten sind. Es gibt auch eine immer breitere Produktepalette. Ein Supermarkt verkauft heute z.B. mehr unterschiedliche Sorten von Essig oder Öl als dies der Detaillist vor 30 Jahren tun konnte. In einer pluralistischen Gesellschaft mit vielfältigen Menschen, die durchaus unterschiedliche und wechselnde Bedürfnisse haben, ist aus meiner Sicht die sogenannte Vermassung kein Problem.
Liberale beklagen oftmals die heutige Flut an Gesetzen. Sind die Menschen in einer Marktwirtschaft nicht einfach zu egoistisch, sodass der Staat notgedrungen eingreifen muss?
Spontane Solidarität ist die Basis jeder funktionierenden Gesellschaft. In der Marktwirtschaft wird die Fähigkeit zur Sympathie mit dem Gegenüber durch Tausch ökonomisiert. Dies spielt sich allerdings auf freiwilliger Basis ab. Der Mensch kann letztlich nicht durch Zwang zum Guten, d.h. zur Sympathie geführt werden. Mit Zwang kann man höchstens das Böse, d.h. die Aggression, einschränken bzw. vermeiden.
Staatliche Eingriffe zerstören mehr an tugendhaftem Verhalten als sie schaffen. Wer etwas geben will, muss zuerst etwas haben. Darum ist das Privateigentum die Voraussetzung für soziale Netzwerke von Nehmen und Geben, und auch von Schenken; aber auch für das Übernehmen von Verantwortung bei Irrtümer und Fehlern. Zu viele Einschränkungen der Eigentumsfreiheit fördern im Effekt den Egoismus und untergraben das spontane soziale Verhalten.
Wenn der Staat seine Bürger aufgrund einer umfassenden Daseinsvorsorge dauernd unterstützt, entmündigt er sie. Die total Versorgten verhalten sich immer unmündiger, und es gibt kein vernünftiges Motiv mehr, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.
Oft genug untergräbt der Staat auch die mitmenschliche Solidarität. Wenn der Staat etwa die Familie durch eine „gut gemeinte“ Familien- und Sozialpolitik im Bereich der Erziehung und der gegenseitigen Unterstützung immer mehr entlastet, so schwächt er sie und verhindert dadurch das Erlernen und Praktizieren der für eine Gesellschaft überlebenswichtigen Hilfsbereitschaft in Kleingruppen.
Mit Robert Nef sprach Patrick Freudiger