Der Amerikaner Stephen P. Halbrook hat in seinem neuen Buch den Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs ein Denkmal gesetzt. Über seine neuen Forschungen zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg sowie zum Thema freiheitliches Waffenrecht gab er „Pro Libertate“ ein Exklusiv-Interview. Die Fragen stellte Patrick Freudiger.
Sie befassten sich bereits im Buch «Target Switzerland» mit dem Verhalten der Schweiz im zweiten Weltkrieg. Was war Ihre Motivation, erneut ein Werk zu diesem Thema zu verfassen?
Stephen P. Halbrook: Die Geschichte der Schweiz im zweiten Weltkrieg ist ein reichhaltiges Themengebiet mit vielen Facetten, die in der offiziellen Debatte zu kurz kommen. Das erste Buch «Target Switzerland» griff das Thema in einer generellen Form auf und war chronologisch gegliedert. Im jetzigen Buch liegt der Fokus bei der Befragung von Zeitzeugen. Zudem sind im jetzigen Buch Nachforschungen über die Angriffspläne der Nazis gegen die Schweiz enthalten, welche ich im deutschen Militärarchiv studieren konnte.
Was waren aus Ihrer Sicht die Hauptgründe, dass die Schweiz, umringt von totalitären Diktaturen, ein souveräner Staat blieb?
Stephen Halbrook:
1.: Die geistige Landesverteidigung, welche in der Schweiz funktionierte. Die Schweizer blieben standhaft und waren in ihrer überwältigenden Mehrheit nazi-feindlich eingestellt.
2.: Die geographischen Gegebenheiten: Die Panzer der Wehrmacht hätten in der Schweizer Alpenlandschaft nicht viel bewirken können.
3.: Dass das Land jeden diensttauglichen männlichen Bürger zu einem Teil der Landesverteidigung machte und ihn befähigt hat, eine Waffe zu tragen. In Holland, Frankreich und Dänemark waren keine Waffen zu Hause bei den Soldaten. Die Staaten hatten alles zentralisiert. Unter diesen Umständen funktionierte der Blitzkrieg der Nazis.
Wie war die Bedrohung durch die Nazis zu gewichten?
Stephen P. Halbrook: Sehr real, während des ganzen zweiten Weltkrieges: Als die Nazis überlegten, über welche Flanke (Schweiz oder Benelux-Staaten) sie Frankreich attackieren wollten, entschieden sie sich, die neutralen Benelux-Staaten einzunehmen. In der Schweiz gab es zu viel Widerstand. Nach dem Fall Frankreichs 1940 plädierte der deutsche Aussenminister von Ribbentrop für einen unverzüglichen Angriff. General Keitel konnte die Wehrmacht jedoch davon überzeugen, die Schweizer stattdessen «nur» einzuschüchtern, weil bei einem solchen Militärschlag mit mehreren 100´000 toten Wehrmachts-Soldaten zu rechnen war. 1941 wurde sogar diskutiert, wer der richtige Reichskommissar für eine durch die Nazis besetzte Schweiz sein könnte. Im März 1943 bestand die Angst, dass die Deutschen in Erwartung eines alliierten Angriffs in Italien eine Invasion der Schweiz planten. Im Gefolge der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 und der anschliessenden Rückeroberung nahm die Angst zu, dass die zurückgeschlagenen Deutschen die Schweiz als Rückzugsort einnehmen würden. Niemand konnte vorhersagen, wann der Krieg enden würde.
Wie sind die Militärpläne der Nazis gegen die Schweiz zu gewichten?
Stephen P. Halbrook: Ernsthaft: Es gab mehrere detailliert und gründlich ausgearbeitete Angriffspläne mit vollständigem Kartenmaterial gegen die Schweiz. Bekannt ist der Invasionsplan «Tannenbaum». Daneben aber gab es etliche weitere Pläne: Nazi-Hauptmann von Menges fertigte mehrere Pläne für Angriffe gegen die Schweiz an. Ebenfalls erarbeitete Nazi-Generalstabsmajor Bobo Zimmermann Angriffspläne aus. Dessen Dokumente vom Oktober 1940 zeigten u.a., dass bei einem Angriff auf die Schweiz die Schweizer die auch für die Nazis wichtige Gotthardroute und Brücken zerstören würden und dass viele Tote zu erwarten wären. Wie die Militärarchive zeigen, waren den Nazis auch die Fähigkeiten der Schweizer Soldaten bekannt.
Es wird kritisiert, dass die Schweiz wirtschaftlich enge Beziehungen mit den Achsenmächten führte.
Stephen P. Halbrook: Der Handel war leider nötig. Die Alternative wäre der Kollaps des Landes gewesen. Die Schweiz hatte keine natürlichen Ressourcen. Von Deutschland erhielt sie diese. Das Material wurde nicht zuletzt auch dafür verwendet, um Waffen zur Selbstverteidigung herzustellen. Deutschland war der grösste Handelspartner der Schweiz. Der Fall Frankreichs 1940, die Umzingelung durch die Achsenmächte, die alliierte Blockade sowie die deutsche Gegenblockade machten die Lage für die Schweiz noch schwieriger. Vor dem Fall Frankreichs hatte die Schweiz viel Handel mit den Alliierten getrieben. Auch nach der vollständigen Einkreisung durch die Achsenmächte fuhr die Schweiz weiter. Schweizer schmuggelten lebensnotwendige Güter und Kriegsmaterial, z.B. Miniatur-Zünderteile für Bomben aus der Luft – eine Schweizer Spezialität. Aufgrund deren Kleinheit der Teile konnten diese in gewöhnlichen Umschlägen verschickt werden – so war ein Schmuggel dieser von der Alliierten benötigten Güter möglich.
Es wird der Schweiz vorgeworfen, insbesondere von ehemaligen amerikanischen Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat, sie habe als Neutraler den Krieg durch ihre Handelsbeziehungen um bis zu zwei Jahre verlängert.
Stephen P. Halbrook: Es widerspricht internationalem Recht nicht, als Neutraler auch mit kriegführenden Staaten Handel zu treiben. Der Handel der Schweiz mit den Nazis war viel zu unbedeutend, um den Krieg verlängern zu können. Die Nazis importierten viel mehr von anderen Staaten (auch von Neutralen wie der Türkei) als von der Schweiz, z.B. Chrom. Schweden, ebenfalls neutral und nicht umkreist von Achsenmächten, erlaubte sogar Truppendurchmärsche; nicht so die Schweiz. Die Unterstellung, wonach die Schweiz wegen ihren Handelsbeziehungen den Krieg um zwei Jahre verlängert hätte, ist übrigens nicht durch wissenschaftliche Forschung untermauert. Sie wurde von Stuart Eizenstat nur im Vorwort zum Eizenstat/Slany-Bericht erwähnt. Im Bericht selbst wird davon nicht gesprochen.
Wie sind neutralitätsrechtlich die geheimen Armee-Absprachen zwischen der Schweiz und Frankreich zu gewichten?
Stephen P. Halbrook: Auch als Neutraler lautet die erste und wichtigste Devise: Überleben. Alle wussten, dass Deutschland der einzige ernsthafte Aggressor sein könnte. Die Deutschen beklagten sich, es gäbe keine Verteidigungslinien gegenüber Frankreich. Hitler sicherte zwar der Schweiz mehrmals zu, ihre Neutralität zu respektieren. Der Einfall der Deutschen in Belgien zeigte aber, wie wertlos diese Garantie war.
Ihr Buch trägt den Untertitel «Eine Ergänzung zum Bergier-Bericht». Inwiefern ist der Bergier-Bericht unvollständig?
Stephen P. Halbrook: Die Bergier-Kommission machte keine Gesamtwürdigung. Man betrachtete einzelne Facetten (Handel, Flüchtlinge, Elektrizität) isoliert und berücksichtigte nicht die Gesamtumstände und insbesondere auch nicht die Alternativen. Ab Juni 1940 war die Schweiz völlig isoliert inmitten von totalitären Regimen. Was wäre die Alternative zum Handel mit den Nazis gewesen? Ein Holocaust auch in der Schweiz! Zu kurz kamen im Bergier-Bericht auch die Befragungen von Zeitzeugen und die deutschen Angriffs- und Subversionspläne. Die Deutschen hatten ihre Agenten auch in der Schweiz. Österreich konnte dank Subversion ins Reich eingegliedert werden. Die Schweiz blieb standhaft.
Kritisiert wird im Bergier-Bericht auch die Flüchtlingspolitik der Schweiz, insbesondere der bundesrätliche Beschluss vom August 1942, der Juden nicht mehr als politische Flüchtlinge erkannte.
Stephen P. Halbrook: Nachdem der Bundesrat im August 1942 die Weisung erliess, dass Personen, die aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit Asyl suchen (also vor allem Juden), nicht mehr als politische Flüchtlinge galten, ging eine Weller der Empörung durch die Bevölkerung. In Parlament und Gesellschaft wurde eine grosse Debatte eröffnet über die Schweizer Flüchtlingspolitik mit der Folge, dass der Beschluss wieder etwas gelockert wurde. Wie der Ludwig-Bericht aus dem Jahr 1957 aufzeigt, galten die Einschränkungen ohnehin nicht für kranke und schwangere Frauen, Personen über 65, Kinder unter sechzehn, die allein waren, sowie Eltern mit Kindern. Gegen Ende des Kriegs, als man unleugbare Beweise des Nazi-Vernichtungsprogramms erhielt, wurde allen Juden die automatische Einreise gewährt. Die Schweiz hat proportional mehr Flüchtlinge als irgendein unbesetztes Land aufgenommen.
Zur Rolle der USA: Im Zweiten Weltkrieg genoss die Schweiz grosses Ansehen in den USA, in den neunziger Jahren wurde sie im Zusammenhang mit den nachrichtenlosen Vermögen scharf attackiert. Wieso dieser Wechsel der Sichtweise?
Stephen P. Halbrook: Der Wechsel war politisch motiviert. Sachlich richtig ist die ursprüngliche Sichtweise. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Schweiz von den USA geschätzt: Sie repräsentierte US-Interessen inmitten eines totalitären Europas und nahm zudem viele Flüchtlinge und US-Soldaten auf. Die Kampagne gegen die Schweizer Banken in den neunziger Jahren dagegen basierte auf unwahren Behauptungen. Die Clintons machten aus praktischen Gründen mit. Die Eizenstat-Kommission ist ein Beispiel politisch motivierter und dirigierter Geschichtsschreibung. Das Ergebnis der «Forschung» wird durch Order des Präsidenten bestimmt.
In den USA ist der freie Waffenbesitz durch den zweiten Verfassungszusatz garantiert. Inwiefern ist zu befürchten, dass der jetzige demokratische Präsi-dent Barack Obama dieses Recht beschneidet?
Stephen P. Halbrook: Als Senator im Staate Illinois unterstützte Obama die radikalste Vorlage zur Reglementierung des Waffenbesitzes: Ein Verbot des freien Erwerbs von halbautomatischen Schusswaffen. Als er populärer wurde und nachdem sich abzeichnete, dass er die Präsidentschaftswahl gewinnen würde, wurden in den USA mehr Waffen und Munition als je zuvor verkauft. Ein wahrer Kaufrausch, da die Menschen – zu Recht – Angst haben vor einer Einschränkung ihres Rechts auf freien Waffenbesitz.
Allerdings sind die Möglichkeiten von Obama beschränkt. Die Demokraten wissen, dass sie die Wahlen verlieren, wenn sie das Recht auf freien Waffenbesitz einschränken. Clinton drückte in seiner ersten Amtszeit eine Einschränkung durch. 1994 verloren dann die Demokraten die Parlamentsmehrheit an die Republikaner. Die NRA hat viel Einfluss und war massgeblich an diesem Wechsel im Parlament beteiligt.
Auch in der Schweiz wird das traditionell freiheitliche Waffenrecht immer mehr eingeschränkt. Welche Tipps können Sie den Schweizer Schützengesellschaften geben?
Stephen P. Halbrook: Das Wichtigste ist, politischen Einfluss auszuüben. Die Schützen müssen sich organisieren. Man muss hart arbeiten und insbesondere auch jüngere Mitglieder gewinnen. In den USA gibt es mit der NRA eine starke Organisation, welche die Kräfte bündelt und die Politik beeinflusst.
In gewisser Hinsicht ist aber die Ausgangslage zur Verteidigung des freiheitli-chen Waffenrechtes in der Schweiz besser. Namentlich aufgrund der Schweizer Milizarmee – einer Institution, welche von der Regierung nach wie vor nicht in Frage gestellt wird: Jedem jungen Mann wird zu Beginn des Militärdienstes ein Gewehr in die Hand gedrückt. Man lernt einen natürlichen Umgang mit Waffen. Die Institution Milizarmee führt zu einem unverkrampften Verhältnis von Waffen und Volk.
Worin liegt Ihrer Ansicht nach der weitverbreitete Wunsch vieler Politiker nach zusätzlichen Waffenkontrollen begründet?
Stephen P. Halbrook: Letztlich geht es um den Wunsch der herrschenden Klasse, die Menschen kontrollieren zu können. Der freie Waffenbesitz ist eine durch und durch demokratische Idee. Das Recht auf freien Waffenbesitz steht in der US-Verfassung nicht zufällig direkt hinter dem ersten Zusatzartikel, welcher die freie Rede garantiert. Freier Waffenbesitz, freie Rede und freies Stimmrecht sind die Eckpfeiler der Demokratie. Die Menschen einzuschränken und ihnen die Waffen wegzunehmen, bedeutet, sie zu kontrollieren. Das ebnet den Weg zur Tyrannei.
Welche Tragweite hat der 2. Verfassungszusatz heute noch konkret?
Stephen P. Halbrook: Eine Waffe zu haben bedeutet, sich schützen und wehren zu können. Im amerikanischen Militärstützpunkt Fort Hood wurden sogar die eigenen Soldaten entwaffnet. Ein Soldat, welcher sich dem radikalen Islamismus verschrieben hatte, schmuggelte illegal Waffen ein und lief anschliessend Amok – die übrigen, sich regelkonform verhaltenden Soldaten waren wehrlos. Ein anderes Beispiel ist das Deutschland der 30er Jahre: Noch zu den Zeiten der Weimarer Republik wurden Waffenregister erstellt aus Angst, die Waffen könnten in die falschen Hände geraten. Als dann die Nazis die Macht ergriffen, dienten ihnen diese Register zur Entwaffnung der Regimegegner und der Juden. Diese Entwaffnung der Juden hat nicht zuletzt auch den Holocaust mit ermöglicht.
Als US-Amerikaner haben Sie Gelegenheit, die Schweiz von einer Aussensicht zu betrachten. Was geben Sie unserem Land über sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg für die Zukunft mit auf den Weg?
Stephen P. Halbrook: Die Schweiz ist ein Sonderfall: Die Ablehnung gegenüber staatlichem Dirigismus und Zentralismus; das freiheitliche Waffenrecht; der Föderalismus und die lokale Kontrolle; die ausgedehnte Möglichkeit, Volksabstimmungen abzuhalten. Ohne diese Merkmale wäre die Schweiz einfach so wie alle anderen EU-Staaten. Die Schweiz muss Sorge tragen zu ihren Werten.
Stephen P. Halbrook ist Rechtsanwalt, Buchautor und ehemaliger Professor für politische Philosophie. Der US-Amerikaner hat vor dem Supreme Court, dem obersten Gerichtshof des Landes, bereits mehrere Male erfolgreich das freiheitliche US-Waffenrecht verteidigt. Halbrook ist ausgewiesener Kenner der Geschichte der Schweiz im 2. Weltkrieg und hat u.a. bereits im Werk „Target Switzerland“ („Die Schweiz im Visier“) die Bedeutung des Schweizer Wehrwillens für die Unabhängigkeit unseres Landes im 2. Weltkrieg herausge-arbeitet.