Der ehemalige Weltwoche-Redaktor und heutige Chefredaktor der Basler Zeitung (BaZ), Markus Somm, hat sich intensiv mit der Figur General Guisan und der Rolle des Schweizer Militärs im Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Seine Gedanken hat er im Buch „General Guisan – Widerstand nach Schweizer Art“ zusammengefasst. Er widerspricht darin fundiert und faktenreich den Bergier-Historikern, welche die Rolle Guisans und des Militärs im Zweiten Weltkrieg systematisch demontiert haben. Im Exklusiv-Interview mit Pro Libertate gibt Somm Einblick in seine Forschungen. Die Fragen stellte Patrick Freudiger.
Die Schweiz konnte im Zweiten Weltkrieg während des ganzen Krieges unter schwierigsten Umständen ihre staatliche Unabhängigkeit erhalten. Welchen Verdienst hatte die Armee an dieser Leistung?
Die Armee spielte hierbei eine sehr grosse Rolle. Die zentrale Frage für die Schweiz war: Was hatte unser Land für ein Pfand gegenüber den Nazis, um sich seine Unabhängigkeit zu erhalten. Hier sind vor allem die Alpenübergänge zu nennen. Die Gotthardroute war damals die einzige zweispurige Eisenbahnstrecke durch die Alpen. Der überwiegende Teil der Kohlelieferungen Deutschlands an Italien erfolgten durch den Gotthard. Italien war auf diese Lieferungen in hohem Mass angewiesen, da aufgrund der alliierten Blockade Italiens ganzer Kohle-Nachschub aus Deutschland stammte. Ebenso wurden Lebensmittel durch den Gotthard transportiert. Die Gotthard-Verbindung war damit für die Achsenmächte sehr wichtig. Hier kommt die Rolle der Armee ins Spiel: Die Armee hielt den Gotthard besetzt, insbesondere mit der Réduit-Strategie. Das Réduit war eine dauernde Drohung an die Nazis: Bei einem deutschen Angriff hätte die Schweizer Armee die Verbindungswege gesprengt. Das schreckte die Nazis ab. Eine solche Abschreckung konnte aber nur mit einer glaubwürdigen Armee erreicht werden.
Teilweise wird behauptet, dass die Gotthard-Route für Deportationszwecke gebraucht wurde.
Das ist unwahr. Nie wurden Truppen, Zwangsarbeiter oder Juden durch den Gotthard geführt. Waffentransporte erfolgten ganz selten und ab dem Jahr 1942 ebenfalls gar nicht mehr durch den Gotthard. Neutralitätsrechtlich waren solche Waffentransporte überdies nicht untersagt, sofern der Waffenproduzent ein Privater war. Die Schweiz hielt ihre Neutralität hoch. Anders als z.B. Schweden, damals ebenfalls ein neutraler Staat: Die schwedischen Behörden erlaubten eine für die Nazis wichtige Truppenverschiebung per Zug durch das Land.
Inwiefern war die Armee noch wichtig für die Schweiz?
Die Armee war für die Menschen in der Schweiz auch deshalb sehr wichtig, weil sie ein glaubwürdiges Mittel darstellte, womit man sich gegen die Nazis wehren konnte. Dabei hatten die Schweizer nie die Illusion, einen Krieg gegen die Nazis gewinnen zu können. Vielmehr ging es darum, den Nazis einen möglichst hohen Eintrittspreis abverlangen zu können und sie so davon abzuhalten, das Land überhaupt anzugreifen. Die Schweizer waren auch nie so naiv zu behaupten, nur wegen der Armee sei die Schweiz von einem Einmarsch verschont geblieben. Man wusste, dass auch Glück sowie günstige Konstellationen (andere Prioritäten der Nazis) eine Rolle spielten. Aber die Armee leistete einen gewichtigen Beitrag zur Garantie der Unabhängigkeit.
Wie war es um die Stimmung im Land nach dem Fall Frankreichs im Juni 1940 bestellt?
Dies war die wohl schwierigste Zeit für das Land in unserer jüngsten Geschichte überhaupt. Die Schweizer Strategie basierte massgeblich darauf, im Falle eines deutschen Angriffs von Frankreich Schutz zu erhalten. Mit dem überraschenden Fall Frankreichs hatte die Schweiz auf einmal keine militärische Strategie mehr. Gerade in den Eliten wuchs das Gefühl, nun sei Anpassung nötig. Einige liessen sich blenden von der deutschen Propaganda, dem europäischen Binnenmarkt unter deutscher Führung und der Prophezeiung der Nazis, die Schweiz hätte gar keine andere Möglichkeit mehr, als sich anzupassen. Auch innenpolitisch galten autoritärere Staatsvorstellungen als Zeichen der neuen Zeit. Diese Vorstellungen fanden auch bei manchen Linken Anklang. Der Nationalsozialismus wies die Wirtschaft in die Schranken. Dies alles ging aber nie soweit, dass ein Anschluss gefordert wurde.
In dieser unsicheren Zeit war die Réduit-Rede von General Guisan enorm wichtig. Sie zeigte einen anderen Weg auf: Die Schweiz bleibt unabhängig und besinnt sich auf ihre eigenen Stärken. Guisan vermittelte den Menschen Hoffnung und Glauben an die eigene Stärke.
Welchen Stellenwert hatten nazifreundliche Elemente, insbesondere die Frontisten, in der Schweizer Politik?
Schon 1933 war für eine überwiegende Mehrheit der Schweiz sehr schnell klar: Man wollte keinen Nationalsozialismus. Es gab einen kurzen Frontenfrühling im Jahr 1933, der aber schnell wieder abklang. Die Frontisten hatten nur einen einzigen Nationalrat. Nie kamen sie über einen Wähleranteil von 3% hinaus. Die englischen Zeitungen der 30er Jahre hatten nie einen Zweifel, dass die Schweizer unabhängig bleiben wollten. Im Ersten Weltkrieg hegten viele Deutschschweizer Sympathie für Deutschland. Im Zweiten Weltkrieg war die Schweiz geeint: Es gab nie eine grössere Minderheit in der Schweiz, welche den Anschluss an Deutschland befürwortete. Diese Stimmung manifestierte sich auch 1939 bei der Wahl des Generals. Die Wahl eines Welschen war ein klares Signal an Deutschland: Die Schweiz will nichts zu tun haben mit den Nazis. Ulrich Wille, dessen Fähigkeiten in Fachkreisen in den höchsten Tönen gelobt wurden, galt als zu deutsch-freundlich und hatte bei der Wahl durch das Parlament keine Chance.
Was war General Guisan für ein Mensch?
Beharrlichkeit und eine gewisse Langsamkeit zeichneten Guisans Schaffen aus. Er war in diesem Sinne selbst eine urschweizerische Persönlichkeit. Seine grösste Stärke war wohl sein todsicherer Instinkt. Dieser Instinkt riet ihm in der Stunde der grössten Bedrohung, nicht auf den Anschluss an ein neues Europa zu pochen, sondern im Gegenteil darauf zurückzugehen, was die Schweiz ausmacht. Guisan war konservativ und stand den welschen Liberalen nahe. Aber er war kein hochpolitischer Mensch. Es ging ihm nicht darum, eine linke oder rechte Schweiz zu verwirklichen. Anstelle von Parteienwettkampf und statt über Neues zu diskutieren war ihm wichtig, zuerst einmal das Schweizerische an der Schweiz zu bewahren. Oberstes Ziel war die Bewahrung unserer Unabhängigkeit. Auch deshalb wurde Guisan für die Menschen aus allen politischen Lagern zur Integrationsfigur.
Wie verhielt sich Grossbritannien gegenüber der Schweiz nach dem Fall Frankreichs?
Auch England gab die Schweiz nach dem Fall Frankreichs auf. Englische Diplomaten waren sich nicht sicher, ob die Schweiz als unabhängiger Staat überleben würde. Die Schweiz galt, alleine und umringt von totalitären Diktaturen, als sinkendes Schiff und nicht mehr als sicher: Gelieferte Waffen wären im Falle einer Einnahme der Schweiz direkt den Nazis zugute gekommen. Die alliierte Wirtschaftsblockade gegen die Achsenmächte traf deshalb auch die Schweiz. Die Schweiz konnte deshalb nicht anders als mit den Achsenmächten Handel treiben, um die benötigten Rohstoffen zu erhalten.
Hier kommt erneut die Rolle Guisans ins Spiel. Seine Réduit-Rede hatte nicht nur auf die Menschen in der Schweiz, sondern auch aufs Ausland Auswirkungen. Sie markierte einen Gegensatz zur Anpasser-Rede von Bundesrat Marcel Pilet-Golaz. Die Briten sahen: Die Schweiz hält durch. Schon im Herbst 1940 lockerten die Briten die verhängte Blockade gegenüber der Schweiz und zogen sie nie ganz durch. Man hatte grosses Vertrauen in die Schweiz. Durch die unbesetzten Gebiete Frankreichs erfolgte ein Schmuggelhandel zwischen der Schweiz und Grossbritannien. Die Schweiz lieferte Zünder, welche aufgrund der hohen Präzision für die Briten wichtig waren. England wollte so auch die Schweiz in den Verhandlungen mit den Nazis stärken.
Welchen Zustand zeichnen Sie von der Armee heute?
Seit dem Ende des Kalten Krieges verlor die Armee unvorstellbar an Bedeutung. Heute hat die Armee ein Legitimationsproblem, da derzeit auf dem europäischen Festland Kriegshandlungen unwahrscheinlich sind. Dieses Vakuum wurde mit der vermehrten Ausrichtung der Armee auf Auslandeinsätze zu füllen versucht. Indes stehen diese Auslandeinsätze der Armee im Widerspruch mit der Schweizer Neutralitätstradition. Überdies werden Auslandeinsätze regelmässig nur von wenigen Armeeangehörigen durchgeführt. Die Einsätze vermögen damit nicht der Armee als Ganzes eine Legitimation zu verleihen.
Ich plädiere für eine möglichst grosse Armee, die vom Milizprinzip geprägt ist. Wichtig ist auch das Prinzip des freien, bewaffneten Bürgers. Möglichst viele Personen sollen wissen, wie man eine Waffe bedient. Ein freier Bürger soll sich wehren können. Gewiss sind heute kriegerische Handlungen in Europa unwahrscheinlich. Indes muss die Armee auch fähig sein, das Land in 30 oder 40 Jahren noch verteidigen zu können, falls sich dann die Situation wieder ändert. Die Geschichte Europas ist untrennbar mit Krieg verbunden. Es wäre mit Blick auf die europäische Geschichte fahrlässig, die heutige Epoche des Friedens als etwas Selbstverständliches zu erachten.
Sie sind seit Kurzem Chefredaktor der Basler Zeitung (BaZ). Was sind Ihre Vorsätze als Chefredaktor dieser etablierten Tageszeitung?
Die Meinungsvielfalt in der Schweizer Presse ist heute nicht mehr allzu gross. Es hat sich ein gewisser Mainstream links der Mitte gebildet, geprägt von den Medienhäusern Ringier, der SRG und Tamedia. Das schweizerische journalistische Milieu ist heute praktisch geschlossen. Die Journalisten pflegen einen ähnlichen Lifestyle, haben das gleiche Studium hinter sich, man kennt sich. Oft merken die Journalisten gar nicht, wie einseitig sie schreiben und dass es noch andere Meinungen gibt. Es herrscht auch ein hoher Gruppendruck, im Mainstream zu bleiben. Diese journalistische Homogenität ist geradezu langweilig geworden.
Als Chefredaktor der BaZ ist es mir deshalb ein Anliegen, echte Pluralität der Meinungen zu garantieren. Die BaZ soll ein Signal für Meinungsvielfalt setzen und so als Vorbild für andere Zeitungen dienen. Linke und bürgerliche Ansätze sollen zu gleichen Teilen Platz haben. Die meisten Tageszeitungen tun dies heute nicht. Die BaZ ist heute die führende Regionalzeitung im Raum Basel und ich möchte, dass dies auch so bleibt.
Markus Somm, 1965, studierte in München, Bielefeld und Zürich Geschichte und in Harvard Politikwissenschaft. Seit ca. 10 Jahren schreibt er über Schweizer Innenpolitik und Zeitgeschichte; zuerst beim Tages-Anzeiger, danach bei der Weltwoche. Nun amtet er als Chefredaktor der Basler Zeitung. Er verfasste neben der Biographie über General Guisan („General Guisan – Widerstand nach Schweizer Art“) auch eine über alt Bundesrat Christoph Blocher („Christoph Blocher – der konservative Revolutionär“). Er lebt mit seiner Familie in der Region Zürich.